Die Gender-Health-Gap: Warum Frauen anders trainieren sollten als Männer

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In der Medizin und Wissenschaft wurden der weiblichen Anatomie bislang kaum Beachtung geschenkt. Es ist jedoch essenziell, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu kennen, um beim Training optimal auf ihre Bedürfnisse einzugehen.


Das Wichtigste in Kürze:

  • Der Frauengesundheit wurde im Sport- & Gesundheitsbereich bislang zu wenig Beachtung geschenkt.
  • Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Anforderungen an ein effizientes und effektives Training zwischen den Geschlechtern.
  • Um als Frau effizient Trainingserfolge zu erzielen, muss die weibliche Physiologie berücksichtigt werden, was unter anderem bedeutet, im Einklang mit dem Menstruationszyklus zu trainieren.

Laut den Eckdaten des DSSV machen Frauen mit 53,3 % den größeren Teil der Mitglieder eines Fitnessstudios aus. Insgesamt sind in Deutschland 26 % aller Frauen in Fitnessstudios angemeldet – Tendenz steigend. Dabei ist die Altersgruppe zwischen 20 und 29 am häufigsten vertreten. Diese Zielgruppe heißt es, für sich zu gewinnen und vor allem dauerhaft als Mitglied zu halten. Dabei wird so gut wie nur möglich versucht, up to date zu bleiben und sein Angebotsspektrum stetig zu erweitern.

Man muss nicht jeden Trend mitmachen! Was man allerdings tun sollte, ist, seine Mitglieder, deren Trainingsziele sowie deren Indikationen zu kennen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen.

Und genau hier beginnt das Problem. Denn die Kundin zu verstehen, bedeutet vor allem auch, sich mit der weiblichen Anatomie und Physiologie auszukennen. Als Trainer weiß man genau, wie jeder einzelne Muskel auf Deutsch sowie auf Latein heißt, wo dessen Ansatz und Ursprung ist sowie dessen Funktion.

Doch in welchen Ausbildungen/Studiengängen wird auf die physiologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern eingegangen? Auf die Besonderheiten der weiblichen Biologie? Auf die Auswirkungen des Menstruationszyklus? Genau, bisher in KEINER! Selbst im Medizinstudium werden wichtige Grundlagen der weiblichen Physiologie nicht gelehrt. Doch wieso ist das so? Und warum existiert bislang weniger Wissen über die Biologie der Frau als über die des Mannes?


Frauenfitness


Die Gender-Health-Gap

Die neueste Metaanalyse von Cowley et al. (2021) zeigt erschreckenderweise, dass gerade mal 6 % der Studien in den Sport- & Bewegungswissenschaften ausschließlich an Frauen durchgeführt wurden. „Weil die Erhebung mit Probandinnen zu teuer und zu aufwendig ist.“ Die hormonellen Schwankungen während des Menstruationszyklus haben Auswirkungen auf viele Parameter, welche die sportliche Leistungsfähigkeit und auch den Nährstoffbedarf betreffen.

Die Konzipierung guter Studien ist komplex, denn es gibt einige Dinge an der Forschung mit weiblichen Teilnehmern zu beachten. In welcher Zyklusphase ist die Probandin? Nimmt sie hormonelle Kontrazeptiva ein? Befindet sie sich vor/nach der Menopause?

Dies führt dazu, dass Frauen aus wissenschaftlichen Untersuchungen oft ausgeschlossen werden. Dabei spricht man auch vom sogenannten „Gender-Data-Gap“, da hier eine Datenlücke (zum Nachteil der Frauen) vorliegt, was ausgesprochen viele und schwerwiegende Folgen mit sich bringt.

In der Wissenschaft wird argumentiert, dass die allgemeine menschliche Physiologie, mit Ausnahme der Fortpflanzungsfunktion, traditionell in Bezug auf Reaktionen des „typischen 70-kg-Mannes“ definiert wurde (Miller, 2005)1. Schon mal aufgefallen, dass auf fast allen Covern von Anatomiebüchern männliche Körper abgebildet sind?!

Die Gender-Health-Gap umfasst nicht nur den Menstruationszyklus, sondern allgemein die Frauengesundheit, welcher bislang im Sport- & Gesundheitsbereich noch zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Viele Frauen sind von starken Menstruationsbeschwerden, Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode), Endometriose und weiteren gynäkologischen Erkrankungen betroffen. Diese Beschwerden wirken sich selbstverständlich auf das Wohlbefinden, aber auch die sportliche Performance aus.

Zusammengefasst: Die Studien waren bisher zu komplex, aufwendig und zu teuer, weshalb Trainings- und Ernährungsempfehlungen hauptsächlich für die männliche Physiologie geeignet sind und einfach auf Frauen abgeleitet wurden. Selbst in Studien nur an Frauen wurde den zyklusbedingten hormonellen Schwankungen kaum Rechnung getragen.

Doch unsere Hormone außer Acht zu lassen, wäre wie ein Auto ohne Lenkrad. Denn diese chemischen Botenstoffe überliefern Informationen und steuern zahlreiche lebensnotwendige Körperprozesse, wie z. B. den Stoffwechsel und die Energiegewinnung, die Entwicklung und Fortpflanzung, die Atmung, den Blutdruck und vieles mehr.

Während des Menstruationszyklus verändern sich die Hormonspiegel, was sich z. B. auf das Energielevel, den Grundumsatz, die Stimmung, die Verletzungs-, Infektanfälligkeit etc. auswirkt und damit zum einen die sportliche Leistungsfähigkeit und zum anderen die Anpassungsfähigkeit an gewisse Reize beeinflusst.


Zyklusbasiertes Training ist kein Trend, sondern ein MUSS!

Wer denkt, „zyklusbasiertes Training“ sei nur ein Trend, liegt definitiv falsch! Doch ist es die Aufgabe der Fitness- und Sportbranche, über den Menstruationszyklus aufzuklären und darauf aufmerksam zu machen? Ist das nicht Sache der Schulbildung oder z. B. der Gynäkologen und Gynäkologinnen?

Fitnessstudios dienen dem Zweck, sich „fit zu halten“ und individuell festgelegte sportliche Ziele zu erreichen. Dass sich viele Frauen dabei sowohl physisch als auch psychisch kaputt machen, wissen die wenigsten. Nach Schätzungen und verschiedenen Studien sind etwa 70 bis 98  % der Menstruierenden von verschiedene Menstruationsbeschwerden bzw. Zyklusstörungen betroffen.

Laut einer Umfrage (2020) der Menstruations-Plattform „Erdbeerwoche“, an der mehr als 2.000 Frauen teilnahmen, gaben 98  % an, unter unterschiedlichen Formen von Menstruationsbeschwerden, wie z. B. Bauchschmerzen (63  %), starke Menstruationsblutungen (30  %) und Zyklusunregelmäßigkeiten (23  %), zu leiden. Manche Frauen sind von so starken Schmerzen betroffen, dass sie für ein bis drei Tage arbeitsunfähig sind. In Spanien wurde deshalb der sog. „Menstruationsurlaub“ eingeführt.

Zudem sind ca. 85  % der Frauen während der prämenstruellen Phase von dem sogenannten Prämenstruellen Syndrom (PMS) betroffen (Steiner & Born, 2000)2, welches durch emotionale und körperliche Symptome (wie z. B. Kopfschmerzen/Migräne, Brustspannen, Wassereinlagerungen, Energielosigkeit, Depressionen, Stimmungslabilität etc.) gekennzeichnet ist.

Liegt keine organische, pathologische Ursache zugrunde, hängen diese Störungen mit einem Hormonungleichgewicht zusammen. Und dieses Hormonungleichgewicht hängt wiederum mit Lebensstilfaktoren – besonders mit physischem und psychischem Stress – zusammen.

Und genau hier kommt die Fitnessbranche ins Spiel. Denn Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass eine „falsche“ Ernährung und „falsches“ Training physischen Stress bedeuten. Man muss also kein/-e Experte/Expertin sein, um festzustellen, dass sich Menstruations-beschwerden und Zyklusstörungen auf das Wohlbefinden, die Gesundheit, die körperliche Fitness und Leistung auswirken.

Einige Sportlerinnen, vor allem aus dem Leistungsbereich, sind von den hier genannten Menstruationsbeschwerden jedoch gar nicht erst betroffen, da sie ihre Periode schon längst verloren haben. „Wie? – Die Periode verlieren?“ Ja, richtig! Viele Athletinnen leiden unter Amenorrhoe, also dem Ausbleiben der Periode. Amenorrhoe ist eines der Symptome des (unter Sportlerinnen und Trainern noch zu wenig bekannten) klinischen Syndroms „RED-S“ (= „Relatives Energiedefizit-Syndrom im Sport“).

Dieses Phänomen ist eine weltweit anerkannte Störung und wurde erstmals 2014 in der Konsenserklärung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC)3 erfasst. Dabei handelt es sich um ein Syndrom bei Sportlerinnen, das aus einem relativen Energiemangel resultiert, welches sich auf viele Aspekte der physiologischen Funktionen auswirkt. Darunter fallen z. B. die Stoffwechselrate, Menstruationsfunktion, Knochengesundheit, Immunität, Proteinsynthese, die kardiovaskuläre und psychische Gesundheit.

Die sowohl kurz- als auch langfristigen gesundheitlichen Folgeschäden sind z. B. Osteoporose, Knochenbrüche/Stressfrakturen, Wachstums- und Entwicklungsstörungen, eine erhöhte Infektanfälligkeit, Unfruchtbarkeit etc. Um den Rahmen an dieser Stelle nicht zu sprengen – im Folgenden ein Fallbeispiel der amerikanischen Mittelstreckenläuferin Mary Cain: „I got caught in a system designed by and for men, which destroys the bodies of young girls.“


Sprinterin


Der Fall der Mary Cain

Die siebzehnjährige „Wunderläuferin“ schloss sich 2013 dem Nike Oregon Project (NOP) an und sorgte weltweit für große Schlagzeilen, als sie im November 2019, in einem Beitrag und schockierenden Video der New York Times, über den angeblichen Missbrauch, dem sie im Langstrecken-Trainingszentrum ausgesetzt war, berichtete. „Ich war das Opfer eines Missbrauchs durch ein System und einen Mann.“

Mary Cain erzählt darin, wie ihr ausschließlich männliches Trainerteam von ihrem Gewicht besessen war. Sie wurde öffentlich gewogen und nach ihren Berichten brutal beschimpft, wenn das Ergebnis der Waage nicht ihren Vorstellungen entsprach. Sie folgte den strikten Anweisungen ihrer Trainer, die keinerlei Rücksicht auf ihre Physiologie und ihr Wohlbefinden nahmen.

Viele Sportlerinnen teilen die Vorstellung, alles opfern zu müssen – inklusive ihrer Gesundheit –, um ihre Ziele zu erreichen. Sie glauben, nur dann sportlich erfolgreich zu sein, wenn sie Dinge ertragen, die andere nicht ertragen können. Überlastungsverletzungen und spätere gesundheitliche Probleme werden von vielen Athletinnen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Spitzensports, als normale Schritte auf dem Weg zum Erfolg in Kauf genommen.

Der Verlust der Periode wird von vielen Sportlerinnen nicht als Warnzeichen, sondern als erfolgreiche Bestätigung für hartes Training verstanden.

Die Gesundheit von Mary Cain litt stark unter dem Übertraining und der Unterernährung. Ihr Östrogenspiegel sank, sie bekam drei Jahre ihre Menstruationsblutung nicht und ihre Knochendichte wurde stark beeinträchtigt, sodass sie sich fünf Knochen brach. Auch ihre Regenerationsfähigkeit wurde stark beeinträchtigt, da sie zu wenig Kalorien aufnahm und sich ihr Körper von dem harten Training nicht erholen konnte.

Verzicht und das harte Training zahlten sich also nicht aus – ganz im Gegenteil, es schadete ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Gesundheit. Berichten zufolge hatte sie am Ende sogar Suizidgedanken.

An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht: Warum sind solche Fälle nicht bekannter? Warum habe ich nie etwas davon mitbekommen? Und warum ändert sich nichts? In einer interessanten Studie von Ryterska et al. (2021) wurde nach den Gründen der Nichtmeldung einer Amenorrhoe gefragt. Dabei wurden die folgenden fünf Hauptgründe der Sportlerinnen gesammelt: (1) fehlende Normalisierung des Themas, (2) das Ausbleiben der Menstruation wird von den Sportlerinnen selbst nicht als Problem wahrgenommen, (3) erlebte Scham und Tabuisierung, (4) Priorisierung der sportlichen Leistung, (5) Verleugnung.

Die Learnings daraus lauten also: Enttabuisierung & Aufklärung! Klar, der Fall von Mary Cain ist ein ziemlich drastisches Beispiel. Doch nicht nur Leistungssportlerinnen, sondern auch viele aktive Fitnessstudiobesucherinnen sind von Amenorrhoe bzw. RED-S betroffen. In einer Umfrage4 mit 500 sportlich aktiven Frauen gab die Hälfte an, schon einmal in den vergangenen Jahren unter Amenorrhoe gelitten zu haben.

Viele Frauen haben das Ziel, abzunehmen, Muskulatur aufzubauen, ihre Ausdauer zu verbessern, und gehen zum Teil übermotiviert und sehr diszipliniert ihre Ziele an. Die meisten Frauen landen schnell in einem (chronischen) Kalorien- bzw. Energiedefizit und quälen sich durch knallharte Trainingseinheiten, ohne sich ausreichend zu regenerieren.

Es erweckt hier vielleicht den Eindruck, Frauen können nicht hart trainieren und ihr Wunschgewicht erreichen, ohne Zyklusstörungen davonzutragen. Dem ist definitiv nicht so.


„Ich habe das Gefühl, Männer erreichen oftmals schneller und leichter ihre Trainings- und Ernährungsziele als Frauen. Das fällt mir besonders auf, wenn ich Paare trainiere.“

Micha Haase, Gründer CityBootCamp & Personal Coach aus Leipzig


Natürlich ist es als Frau möglich, Gewicht zu reduzieren und Muskulatur aufzubauen, ohne gesundheitsschädliche Folgen davon zu tragen. Die „einfache“ Lösung dabei lautet, die weibliche Physiologie zu berücksichtigen, was unter anderem bedeutet, im Einklang mit dem Menstruationszyklus zu trainieren.

Auch Cain erkannte die Ursache des Problems, welches darin lag, dass ihre Trainings- und Ernährungspläne nicht für ihre Physiologie, sondern für die eines männlichen Sportlers ausgelegt waren und dass diese enormen körperlichen Unterschiede nicht berücksichtigt wurden. Die Vernachlässigung dieser Unterschiede schränkt nicht nur die Fortschritte, die Entwicklung und die Möglichkeiten von Sportlerinnen ein, sondern gefährdet auch ihre langfristige Gesundheit.

Der Menstruationszyklus bzw. die weibliche Physiologie muss also seine Berücksichtigung im (Trainings-)Alltag finden – dazu reicht es nicht, Frauenfitnessstudios in pinkem Design zu eröffnen. 



Quelle: BODYMEDIA

Bildquelle: BODYMEDIA , #122061087 dbunn / stock.adobe.com

Veröffentlicht am: 28. Juni 2023

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